Vorträge zum Leitthema „Chaos“
Das „Chaos“ hat Karriere gemacht. Es beherrscht den Schreibtisch und den Winter, den Verkehr und die Gefühle – es scheint allgegenwärtig zu sein. Doch „Chaos“ ist eigentlich eine grundlegende Kategorie, die die Welt erklären und verständlicher machen will. Was die Chaostheorie wirklich aussagt, wie tiefgreifend „Chaos“ mit Naturwissenschaft, aber auch mit Glauben, Kunst oder Psyche zu tun hat, erläutern die Vorträge dieses Studienjahres.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 11.10.2010
„Vom Chaos zur Theorie: Chaosforschung zum Anfassen"
ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Leopold Mathelitsch, Institut für Physik der Karl-Franzens-Universität Graz
In diesem einleitenden Vortrag sollen Wege ins Chaos, aber auch wieder heraus, diskutiert werden. Dabei werden Grundzüge der Chaostheorie, ein Forschungsgebiet vieler Fächer, vor allem aber der Mathematik und der Naturwissenschaften, in möglichst einfacher und verständlicher Weise dargestellt. Ist Chaos völlig unberechenbar oder hält es sich auch an bestimmte Regeln? Was sind Apfelmännchen? Was bedeutet Selbstähnlichkeit? Wie lang ist die Küste Englands? Antworten auf diese und weitere Fragen sollen einen ersten Einblick in das faszinierende Thema „Chaosforschung“ geben.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 8.11.2010
"Chaos am Anfang und Ende der Welt: das biblische Weltbild"
Univ.-Prof. Dr. Ulrike Bechmann, Institut für Religionswissenschaft, Universität Graz
Wer sich aufrafft, das Tohuwabohu in seinem Zimmer zu beseitigen, ahnt vermutlich nicht, dass dieser Begriff die Erde am Anfang der Schöpfung im Buch Genesis beschreibt. Die Erde war „wüst und leer“, so wird Tohuwabohu meist übersetzt. Aus diesem Chaos entsteht die Welt, so die Grundüberzeugung des Alten Orients. Die biblischen Visionen vom Ende der Welt benutzen nicht weniger chaotische Bilder, um das Drama um die Neuschöpfung oder Erlösung der Welt zu beschreiben. Wie dieses „Chaos“ die Welt verstehen lässt, das will der Vortrag zeigen.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 22.11.2010
"Chaos in der Atmosphäre? Wetterextreme, Tornados und Schmetterlingseffekt"
Priv.-Doz. Mag. Dr. Ulrich Foelsche, Institut für Physik und Wegener Zentrum für Klima und Globalen Wandel, Universität Graz
In der Atmosphäre der Erde herrscht „deterministisches Chaos“. Obwohl ihr Verhalten von grundlegenden physikalischen Gesetzen bestimmt wird, kann das Wetter für maximal zwei Wochen vorhergesagt werden, da schon kleine Veränderungen das ganze System langfristig unvorhersagbar verändern (können). Die Erdatmosphäre ist daher ein wichtiges Feld der Chaos-Forschung, und Begriffe wie „Schmetterlingseffekt“ und „Lorenz-Attraktor“ sind untrennbar mit der Chaostheorie verbunden. Es wird erklärt, was es damit auf sich hat – und warum wir zuverlässige Aussagen über das Klima der Zukunft treffen können, obwohl das Wetter chronisch unvorhersagbar ist – und bleiben wird.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 13.12.2010
„Unser Planetensystem – ein chaotisches Uhrwerk"
Ao.Univ.-Prof. Dr. Rudolf Dvorak, Institut für Astronomie der Universität Wien
Chaos ist – obwohl ein uralter Begriff, der auf den Beginn des Seins zurückgeht – ein modernes Schlagwort. Der Vortrag soll aufzeigen, dass es de facto ein wesentlicher Bestandteil der Wirklichkeit ist und, trotz der Bedeutung des Wortes im usprünglichen Sinn, ein formgebendes Element ist. Dies trifft insbesondere auch auf den Kosmos zu und auf die Bewegungen der Planeten um ein Zentralgestirn. Weil wir nun seit etwa 15 Jahren WISSEN, dass es extrasolare Planeten gibt, die um andere Sonnen kreisen, soll auch dieses neue interessante Gebiet der Astronomie diesbezüglich untersucht werden. Obwohl das Chaos auch hier wirkt, können wir trotzdem – im Sinne des grossen Johannes Kepler – die Harmonie der Bewegungsabläufe bewundern.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 10.01.2011
"Chaos auf den Finanzmärkten: Was wir aus der Finanzkrise gelernt haben – und was nicht"
Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr. Roland Mestel, Institut für Banken und Finanzierung, Universität Graz
Die richtigen Lehren aus der Finanzkrise ziehen zu können, setzt voraus, ihre vielfältigen Ursachen ausreichend verstanden zu haben. Dies beginnt bei einer Analyse der in der Vergangenheit immens gestiegenen Anzahl an komplexen Finanzprodukten und -innovationen, verlangt nach einer Diskussion der Rolle von Notenbanken und Aufsichtsbehörden, den vielschichtigen Interessenskonflikten von Ratingagenturen und Investmentbanken und endet in der grundsätzlichen Frage nach der möglichen Selbstregulierung von Finanzmärkten. Um in Hinkunft Zustände wie im letzten Quartal 2008 auf den Finanzmärkten vermeiden zu können, bedarf es daher langfristiger Antworten anstelle von politisch motivierten Schnellschüssen. Dabei gilt, dass Regeln zwar wichtig sind, Regulierung aber nicht die Lösung vermeintlich chaotischer Entwicklungen auf Finanzmärkten darstellt.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 24.01.2011
"Der Turmbau zu Babel: Sprachenchaos als Bürde und Chance"
em.Univ.-Prof. Dr. Erich Prunc, Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft, Universität Graz
Das babylonische an Babel ist der menschliche Hochmut des Totalitätsanspruchs, der Gott zum Handeln herausfordert. So wird Babel zur Metapher für die Aufgabe der „gott-“ oder „naturgegebenen“ Einheit von Welt und Wort. An ihre Stelle tritt die sozial gesteuerte Willkürlichkeit der Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem und damit die menschliche Freiheit, Zuordnungen von Worten zu Welten und Werten, von Sätzen zu Wahrheiten vorzunehmen. Der Blick hinter die Sprachen, Wörter und Sätze, das Bewusstmachen ihres konstruktiven Charakters, das Akzeptieren der unterschiedlichen Sichtweisen, die sich darin spiegeln, und die Überwindung der Differenz zwischen Sprachen und Kulturen durch Übersetzung eröffnen den Weg zu gegenseitiger Toleranz und Wertschätzung.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 07.03.2011
„Die Qual der Wahl: Chaotische Aspekte von Gruppenentscheidungen"
Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr. Christian Klamler, Institut für Finanzwissenschaft und Öffentliche Wirtschaft, Universität Graz
Tagtäglich treffen wir Gruppenentscheidungen. Sei es bei politischen Wahlen, der Auswahl zwischen verschiedenen Jobkandidaten oder einfach nur in der simplen Entscheidung einer Gruppe über das Restaurant fürs Abendessen. In all diesen Fällen werden unterschiedliche individuelle Interessen bzw. Präferenzen zu einem Gruppenergebnis zusammengefasst. Und wie machen wir das? Indem wir Wahlverfahren anwenden. Wir heben unsere Hände, kreuzen Stimmzettel an und zählen sie dann aus. Aber überlegen wir uns eigentlich, wie so ein Wahlverfahren funktioniert? Könnte es sein, dass das Gruppenergebnis nicht das ist, was wir wirklich wollen? Haben wir „falsche Gewinner“? Könnten unterschiedliche Wahlverfahren – bei gleichen individuellen Präferenzen – zu unterschiedlichen Gruppenergebnissen führen? Dieser Vortrag soll eine Einführung in die vielfältigen Überraschungen, die Wahlverfahren mit sich bringen können, darstellen.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 21.03.2011
„Das Messie-Phänomen: Leben zwischen Chaos und Ordnung"
Dr. Elisabeth Vykoukal, Departmentsleiterin, Sigmund Freud Privatuniversität Wien Paris
Abgeleitet vom englischen Wort mess ( = Unordnung) werden jene Menschen Messies genannt, die nicht Ordnung halten können und ihre Wohnung mit Dingen überfüllen. Diese Lebensform führt für die Messies selbst zu vielfältigen Schwierigkeiten und psychischem Leid, sie wirkt auch auf Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft einschränkend, befremdlich und provokant. Meine Arbeit als Psychotherapeutin mit Betroffenen und ihren Angehörigen kreist immer wieder um das Thema des Raumes, den jeder von uns braucht, ausfüllt und gestaltet. Ich beschäftige mich mit den Fragen: Wo finden sich Chaos und Ordnung in der menschlichen Seele? Wie entwickeln wir eine Struktur, in der wir uns zu Hause fühlen können? Was sagt das Messie-Phänomen über den aktuellen Zustand unserer Welt?
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 11.04.2011
„Friede oder Ausgleich? Westliche und östliche Strategien gegen das Chaos der Gewalt."
Univ.-Lektor Mag. Dr. Karl Kumpfmüller MA, Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte sowie Global Studies, Universität Graz
Seit den Römern ist die westliche Welt mit dem Konzept der Pax (wörtlich „Verträge“) vertraut, einem Friedenssystem, das auf militärischer Herrschaft, Verträgen und Sanktionen basiert. Dieser Pax Romana folgten ähnliche Versuche in Gestalt einer „Pax Christiana“ und/oder „Pax Europea“, danach einer „Pax Americana-Sovietica“ und schließlich der gegenwärtigen „Pax Americana“. Eine solche Politik scheint jedoch nicht zu mehr Frieden zu führen. Rom kannte jedoch auch ein alternatives Friedenskonzept, nämlich das einer Concordia (wörtlich „Einklang der Herzen“), deren wichtigste Philosophie es war, dass dauerhafter Friede nur auf dem ständigen Bemühen nach Harmonie, Gerechtigkeit und Ausgleich aufbauen kann. Diese Idee stammt aus frühen östlichen Kulturen und Philosophien (Ägypten, Asien, Griechenland...) und entspricht somit asiatischen, vor allem chinesischen Konzepten der „Governance for Harmony“. Es war und ist eine wirkungsvolle Alternative zum verheerenden Pax-System mit seinen ständigen Friedens-Kriegen. In einer immer stärker globalisierten Welt scheint es heute notwendiger denn je, auf Strategien des Ausgleichs und der Versöhnung statt auf neue Formen von Herrschaft und Überlegenheit zu setzen.
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 09.05.2011
„Zwischen Chaos und Kontrollwahn – Jugendliche und Jugendkulturen heute"
Klaus Farin, Leiter des Archivs für Jugendkulturen in Berlin
Die Zeit scheint sich zu beschleunigen, vor allem für Jugendliche. In immer schnelleren Rhythmen jagt ein Trend den nächsten. Die Zahl jugendlicher Lebensstile wächst explosionsartig. Fluktuation scheint das einzige Kontinuum im Meer jugendlicher Subkulturen zu sein... Doch sind die jugendlichen Lebenswelten wirklich ein einziges Chaos? Oder gibt es doch ungeschriebene Regeln, Steuerungsprozesse, Logik und handfeste materielle Interessen? Existieren Gemeinsamkeiten zwischen den vordergründig so verschiedenen Stilen der Punks und Skinheads, Hooligans und Emos, zwischen den Halbstarken der 50er-Jahre und den HipHoppern der Jetzt-Zeit? Sind Jugendkulturen vielleicht das letzte Biotop der Jugend, in dem sie noch „unverantwortlich jung“ sein dürfen, ein Versuch, das evolutionäre, unkontrollierbare Chaos der Adoleszenz (12–25 Jahre) gegenüber den allmächtigen Kontrollversuchen der Erwachsenenwelt zu retten?
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 23.05.2011
„Ordnung im Chaos von Flucht und Migration: die EU auf dem Weg zu einer harmonisierten Asyl- und Einwanderungspolitik"
Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Benedek, Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen, Universität Graz
Dem Chaos entfliehen, um bei uns wieder im Chaos zu landen? Viele Flüchtlinge und MigrantInnen verlassen ihre Heimat, um politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Not zu entfliegen. Doch welche Probleme erwarten Flüchtlinge und MigrantInnen in Europa? Eine immer restriktiver werdende Asyl- und Fremdenpolitik, Ausbeutung von oft illegalen MigrantInnen. Zunehmend befasst sich die Europäische Union mit Mindeststandards und einer Vereinheitlichung des Fremdenrechts. Zugleich will sie einen Teil der Migrationsströme mittels ihrer Grenzschutzagentur FRONTEX noch vor den Toren Europas abfangen. Wie weit ist die EU mit ihrer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik fortgeschritten? Was sind die wesentlichen Inhalte einer harmonisierten Asyl- und Einwanderungspolitik? Welche grundrechtlichen und menschenrechtlichen Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang? Welche Zukunftsperspektiven bestehen für die Überwindung des „Chaos in Europa“?
Aufzeichnung der Montagsakademie vom 06.06.2011
„Kunst, Kreativität und Pop-Kultur: Chaos als Provokation – Provokation des Chaos"
Ao.Univ.-Prof. Dr. Werner Jauk, Institut für Musikwissenschaft, Universität Graz
Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts streben nach Alternativen zu einer Kultur des Rationalen – Pop als Körperkultur stellt dabei den Höhepunkt dar. Das Rationale scheint vorrangig aus Erfahrungen der sehend kontrollierten Körper-Umwelt-Interaktion hervorzugehen. Ordnungsstrukturen der Welt werden als „Schocks und Schübe“ gedacht – dieses Denken schreiben wir im mechanistischen System fest. Provokation von „non-sense“ durch Zufall oder durch Überforderung von Strukturierungssystemen führt zur Empfindung von Chaos – solche Versuche der Neuordnung sind Gegenhaltungen, die als Verkehrungen letztlich innerhalb des mechanistischen Denkens bleiben. Ein alternatives Ordnungssystem ist die Nutzung von körperlichen/emotionalen Spannungszuständen. „Spannung und Lösung von Spannung“ sind Musik gestaltende Prozesse, sie gehen einen „step aside“, einen Schritt neben das mechanistische Denken; Popmusik als sounddominierte Musik ist grundlegend spannungsgeregelt und damit bestimmender Teil einer hedonischen Kultur, einer Kultur die das Spiel mit Spannung als Ordnungsschema anerkennt. Die digitale Kultur überschreitet die Möglichkeiten des mechanischen Körpers und damit das „logische Maß der Sicht der Dinge“; damit ist sie notwendigerweise eine hedonische Kultur des Hörens – Pop ist ihre Avantgarde.
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